2024 ist weltweit das Jahr der Wahlen. In Indien, Indonesien, Südafrika und Mexiko wurde im ersten Halbjahr gewählt. Erfahren Sie, wie die Wahlergebnisse in diesen wichtigen Schwellenländern die wirtschaftliche Stabilität und die Wachstumsaussichten beeinflussen.
Die letzten zwei Jahre stellten für die Schwellenländer wegen der geopolitischen Turbulenzen eine besondere Herausforderung dar. Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine sowie derjenige in Gaza beherrschten die Schlagzeilen, während China vor einer drohenden Immobilienkrise stand. 2024 sind die politischen und geopolitischen Risiken angesichts einer Rekordzahl von Wahlen weiterhin hoch. Das erste Halbjahr brachte jedoch unerwartet positive Entwicklungen. Das Wirtschaftswachstum erwies sich dank einer erfolgreichen Inflationskontrolle als bemerkenswert robust; die verfügbaren Einkommen nahmen zu, die Zinssätze sanken und dadurch wurden auch die Investitionen angekurbelt. Darüber hinaus brachten die Wahlen in mehreren grossen Schwellenländern überraschende Ergebnisse. Sie belegen die Stärke demokratischer Systeme und Institutionen und widerspiegeln den Wunsch der Menschen nach Veränderung. Trotz der potenziellen Volatilität nach den Wahlen, wenn neue Regierungen ihre Politik festlegen, bleiben die mittelfristigen Aussichten für diese Länder stabil oder haben sich sogar leicht verbessert.
Indien – keine absolute Mehrheit für Narendra Modi
Anfang Juni fanden in Indien, der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt, Parlamentswahlen statt. Über 960 Mio. Inderinnen und Inder waren wahlberechtigt. Damit auch jede Person ihre Stimme abgeben konnte, reisten Wahlbeamte mit elektronischen Wahlgeräten durchs Land bis in die entlegensten Orte, sogar in den Himalaya: Niemand sollte mehr als zwei Kilometer zum nächsten Wahllokal zurücklegen müssen. So schreibt es das indische Wahlgesetz vor.
Narendra Modis Bharatiya Janata Party (BJP) blieb zwar klare Wahlsiegerin, braucht aber, anders als nach den Wahlen 2014 und 2019, Verbündete für eine Mehrheit und ist daher auf ihre Koalitionspartner innerhalb der National Democratic Alliance (NDA) angewiesen, um an der Macht zu bleiben. Kurzfristig besteht die Gefahr, dass die Partei sich auf populistische Ausgaben ausrichtet, um ihr Ansehen in der Bevölkerung zu stärken; das allerdings könnte die Haushaltslage entgleisen lassen. Dennoch widerspiegelt das neue Kabinett politische Kontinuität, da die meisten Minister, darunter die vier Spitzenminister, weiterhin im Amt sind. Vieles deutet darauf hin, dass das begonnene Reformprogramm fortgesetzt wird. Dazu zählen Infrastrukturprojekte, Modernisierung und Verbesserung des Produktionsstandorts, damit der Friendshoring-Trend genutzt werden kann. Darüber hinaus könnte Modis schwächere Position auch positive Auswirkungen haben, wenn damit eine weitere Autokratisierung des Landes verhindert und die Hindu-first-Politik gemässigt werden können. Diese Faktoren tragen zu unseren positiven Wachstumsaussichten für die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt bei.
Indonesien – politische Kontinuität bringt das Land voran
In Indonesien, dem grössten Land Südostasiens, entschied im Februar 2024 Prabowo Subianto bereits in der ersten Runde die Präsidentschaftswahlen für sich. Mit einer erfolgreichen Social-Media-Strategie und Performances auf TikTok, Facebook etc. gewann er die Stimmen vieler junger Wählerinnen und Wähler. Diese Gruppe galt als wahlentscheidend, machten doch die Millennials und die GenZ mehr als 50% der Wahlberechtigten in der drittgrössten Demokratie der Welt aus.
Unter der Regierung von Prabowos Vorgänger Joko Widodo, bekannt als Jokowi, entwickelte sich Indonesien seit 2014 zu einem der mächtigsten Akteure im Indopazifik und erlebte dank Investitionen in die Infrastruktur und mit wichtigen Sozialprogrammen ein bedeutendes Wirtschaftswachstum. Nach zwei Amtszeiten durfte Jokowi allerdings nicht ein drittes Mal kandidieren. Dennoch dürfte sein Einfluss auf das politische Geschehen des Landes fortbestehen, nicht zuletzt durch die Ernennung seines ältesten Sohnes zum Vizepräsidenten. Der politischen Kontinuität hat sich auch Prabowo verpflichtet und wird voraussichtlich auf Jokowis robuster wirtschaftlicher Bilanz aufbauen. Obwohl Prabowos Neigung zu Nationalismus und Populismus Fragen zur Zukunft der Fiskalpolitik aufwirft, ist davon auszugehen, dass die wirtschaftlichen Strategien weitgehend unverändert bleiben werden. Folglich dürfte die wirtschaftliche Entwicklung des Landes den Aufwärtstrend fortsetzen und die 5%-Marke überschreiten.
Südafrika – wirtschaftliche Hürden für die erste Koalition
Nach 30 Jahren an der Macht hat der African National Congress (ANC), die angesehene und einst von Nelson Mandela angeführte Partei, zum ersten Mal die absolute Mehrheit verloren. Gegenüber den 58% im Jahr 2019 hat der ANC im Mai 2024 lediglich 40% der Stimmen erhalten. Besonders unzufrieden waren gerade auch die jüngeren Wähler und Wählerinnen, die nach 1994 Geborenen – die so genannten «born frees»; sie hegen der ehemaligen Befreiungsbewegung gegenüber keine nostalgischen Gefühle, wie dies die älteren Generationen tun, die das Apartheid-Regime und sein Ende miterlebt haben.
Das Wahlergebnis widerspiegelt das Unvermögen des ANC, die wirtschaftlichen Probleme des Landes wirksam anzugehen: Südafrika kämpft mit einer Arbeitslosenquote von über 30% und einem verhaltenen BIP-Wachstum, das in den letzten zehn Jahren aufgrund von Investitionsdefiziten, mangelhafter Wasser- und Stromversorgung, grassierender Korruption und Kriminalität durchschnittlich bei etwa 1% lag.
Präsident Cyril Ramaphosas ANC hat sich nun mit mehreren Parteien, u.a. mit der grössten Oppositionspartei, der Demokratic Alliance (DA), auf die Bildung einer Regierungskoalition geeinigt, die als «Kabinett der Nationalen Einheit» die Geschicke der robustesten Volkswirtschaft Afrikas leiten soll. In einem optimistischen Szenario könnte die marktwirtschaftlich orientierte DA eine stärkere Reformdynamik auslösen. Allerdings ist nicht auszuschliessen, dass ideologische Differenzen die Entscheidungsfindung innerhalb der Koalition schwieriger machen werden. Und die wichtigsten linken Oppositionsparteien, die Umkhonto we Sizwe (MK) und die Economic Freedom Fighters (EFF), könnten versuchen, die Gesetzgebung zu blockieren, was die Instabilität erhöhen würde. Ramaphosa hat die erste Hürde genommen; die nächste Herausforderung besteht darin, alle zur Zusammenarbeit zu bewegen. Wir bleiben deshalb bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Aussichten des Landes vorsichtig.
Mexiko – kurzfristige Risiken, mittelfristige Chancen
Claudia Sheinbaum von der regierenden linken Morena-Partei gelang bei den mexikanischen Parlamentswahlen ein Erdrutschsieg und sie sicherte sich damit eine überwältigende Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses. Sie wird als erste Frau das grösste spanischsprachige Land der Welt regieren.
Die Stärke ihres Mandats birgt ein gewisses Risiko, dass ihre Partei die vom amtierenden Präsidenten López Obrador vorangetriebenen Verfassungsreformen noch vor ihrem Amtsantritt am 1. Oktober verabschieden könnte. Vor allem die umstrittene Justizreform gibt zu Besorgnis Anlass, da sie vorsieht, die Richter des Obersten Gerichtshofs vom Volk wählen zu lassen. Dies würde die Unabhängigkeit der Justiz untergraben und den institutionellen Rahmen des Landes schwächen. Doch es gibt Anzeichen dafür, dass Claudia Sheinbaum, eine Klimawissenschaftlerin, einen technokratischeren Ansatz verfolgen wird als ihr Vorgänger. Sie versprach, fiskalisch umsichtig zu sein, den angesehenen Finanzminister im Amt zu belassen und private Investitionen zu fördern. Dieses Versprechen scheint glaubwürdig, da sie bereits in ihrer früheren Funktion als Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt öffentlich-private Partnerschaften gefördert hat. Kurzfristige Risiken ergeben sich daher aus den oben erwähnten institutionellen Aspekten. Mittelfristig könnte sich die Haltung der Präsidentin jedoch positiv auf die Entwicklung des Landes auswirken.
Die erste Hälfte des Jahres 2024 liegt hinter uns, und die grössten Ungewissheiten im Zusammenhang mit den Wahlen in den Schwellenländern sind beseitigt. Basierend auf diesen Wahlergebnissen bleiben wir vorsichtig optimistisch. Mittelfristig dürften diese Märkte ein stärkeres Wachstumsgefälle aufweisen als die Industrieländer.
Quellen Weltkarte: CNN, Swiss Life Asset Managers